‟
… Prozess der Auflösung, der Entfremdung, des Entsteigens ins
nicht-mehr-heimatliche und -geheure, vor einem plus-ultra eben …, worin sie
nichts anderes mehr als eine Ausartung immer vorhanden gewesener Neigungen,
einen Exzess an Grübelei und Spekulation, ein Übermaß an Minutiosität und
musikalischer Wissenschaftlichkeit …”
Thomas Mann, Doktor Faustus
Dann
hört er sich die Platte mit der H-Moll-Messe an
Weil er nicht einmal privat mehr völlig unverstellt sein kann
Franz-Josef Degenhardt, Erschröckliche Moritat vom Kryptokommunisten
Weil er nicht einmal privat mehr völlig unverstellt sein kann
Franz-Josef Degenhardt, Erschröckliche Moritat vom Kryptokommunisten
In ihrem 2011 erschienenen Opus ‟Die deutsche
Seele”
schrieben Thea Dorn und Richard Wagner unter dem Stichwort ‟Musik” sinngemäß, in
der Malerei und anderen europäischen Kunstsparten würde es nicht weiter
auffallen, denke man sich die namhaften Deutschen daraus weg, die europäische
Musik sei hingegen ohne ihre deutschen Protagonisten nicht denkbar. Dieter
Borchmeyer widmet in seinem kürzlich erschienenen Buch ‟Was ist deutsch?” dem ‟Paradigma der deutschen
Musik” mehr als hundert von über achthundert Seiten, denn das Thema wird nicht
nur in dem so überschriebenen Kapitel abgehandelt.
Bis zum heutigen Tag ist der deutsche Musikmarkt einer
der einträglichsten der Welt – quer durch alle Sparten hindurch – alle treten
sie hier auf, und alle sind willkommen, und sie verkaufen jede Menge Tonträger.
In allen Sparten wohlgemerkt, von der Renaissancemusik/Klassik und Romantik über
Zwölfton, Jazz, Rock ’n Roll bis hin zu den Sphärenklängen des New-Age. Diverse
Marktstatistiken platzieren uns an fünfter oder sechster Stelle unter den
reichen Ländern der Welt, wenn es um persönliche Ausgaben für Musik geht.
Die Deutschen lieben Musik, sie besuchen Konzerte, hören
viel über ihre Kopfhörer und Heim-Anlagen, und zirka 10% der Bevölkerung spielen
ein Instrument, singen im Chor oder betätigen sich sonstwie in der
Laienmusikszene.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs glaubte Richard Strauß, es gebe in Deutschland 80 Opernhäuser. Er sagte das in einem Interview mit dem amerikanischen Presseoffizier Klaus Mann, dem Sohn von Thomas Mann, ohne sich im Klaren zu sein, mit wem er da sprach, und offenbar ohne realisieren zu können, dass diese Opernhäuser genauso in Trümmern lagen wie der Rest des Landes. Die Opernhäuser wurden alle wieder aufgebaut. Heute hat das wiedervereinigte Deutschland immerhin noch 80 ‟feste Opernensembles”, wenn nicht Häuser. Symphonieorchester haben wir 130, das sind doppelt so viele pro 100.000 Einwohner wie in den USA, und die erfreuen selbst in kleinen Städten wie Erfurt oder Ludwigsburg ihr Publikum. Ich bin deshalb sicher, dass die Statistiken der Marktforscher nicht erfassen, was die öffentlichen Hände und die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland für Musik ausgeben.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs glaubte Richard Strauß, es gebe in Deutschland 80 Opernhäuser. Er sagte das in einem Interview mit dem amerikanischen Presseoffizier Klaus Mann, dem Sohn von Thomas Mann, ohne sich im Klaren zu sein, mit wem er da sprach, und offenbar ohne realisieren zu können, dass diese Opernhäuser genauso in Trümmern lagen wie der Rest des Landes. Die Opernhäuser wurden alle wieder aufgebaut. Heute hat das wiedervereinigte Deutschland immerhin noch 80 ‟feste Opernensembles”, wenn nicht Häuser. Symphonieorchester haben wir 130, das sind doppelt so viele pro 100.000 Einwohner wie in den USA, und die erfreuen selbst in kleinen Städten wie Erfurt oder Ludwigsburg ihr Publikum. Ich bin deshalb sicher, dass die Statistiken der Marktforscher nicht erfassen, was die öffentlichen Hände und die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland für Musik ausgeben.
Ich erwähne das nur, weil es mich zu meinem eigentlichen
Thema bringt, nämlich der Frage, woran das liegt, dass Deutschland so ein
Musikland ist, dass die europäische Musik so stark von deutschen Komponisten
und Musikern geprägt worden ist. Sind die Deutschen musikalischer als andere
europäische Nationen? Es gibt wenige Themen, bei denen die Kulturtheoretiker
des 19. und frühen 20. Jahrhunderts so viel Schwulst, nationalistisch/
rassistischen Wahn und Pseudowissenschaft bemüht haben wie bei der Frage nach
der Musik in der deutschen Kultur. ‟Kann man Musiker sein, ohne deutsch zu
sein?” fragt Thomas Mann in den ‟Betrachtungen eines Unpolitischen” gegen Ende
des Ersten Weltkriegs. (Der Gerechtigkeit halber muss angemerkt werden, dass
Thomas Mann im selben Text auch sagt, das eine Kunst, die etwas zähle, ‟dem allgemeinen Prozess
demokratischer Internationalisierung“ unterliege.) Angefangen hat der Schwulst mit Richard Wagner,
dem wir keineswegs nur das eine unsägliche Machwerk vom ‟Judenthum in der Musik”
zum Thema Musikästhetik und ‟Deutschthum” zu verdanken haben; weitergegangen
ist es mit Pfitzners deutschtümelnder Anbiederei bei den Nazis, bis hin zum
Händeringen in den Nachkriegsfeuilletons, als plötzlich nicht-deutsche
Dirigenten daherkamen und die Berliner Philharmoniker mit Beethoven und dann
sogar – horribile dictu – Wagner in Bayreuth zu dirigieren anfingen.
Es gab in diesem Land bis lange nach dem Zweiten
Weltkrieg wirklich Menschen, die der Ansicht waren, ‟deutsche” Musik könne
nur von Deutschen interpretiert oder dirigiert werden. Die deutsche Musik wurde
als die Musik schlechthin gesehen; sie galt als die höchste Errungenschaft und
überhaupt der Gipfel der deutschen Kultur, und weil es rein mengenmäßig nichts
Vergleichbares in Europa gab, muss nicht eigens betont werden, welche
Überlegenheitsgefühle man daraus ableiten konnte. Manchmal habe ich den
Eindruck, dass dieses Denken nie ganz verschwunden ist, bei aller
Globalisierung des Musikbetriebes. Oder vielleicht feiert es derzeit eine
Renaissance, gerade wegen dieser Globalisierung, in deren Folge sich nun jede/r
noch so Begabte im unübersehbaren Wettbewerb mit ebensolchen Musizierenden aus
der ganzen Welt befindet?
Bleibt die Frage, warum deutsche Musiker auf die Entwicklung der
europäischen Musik einen so starken Einfluss hatten. Ich glaube nicht, dass die
Deutschen irgendein Musik-Gen haben oder dass sie sensibler – empfänglicher für
das Metaphysische, sich dem Verstand Entziehende in der Musik – sind als andere
auf der Welt. Diese Metaphysik spielt sich nur im Kopf der Hörenden ab – die
Komponierenden müssen sehr wohl ihren Verstand gebrauchen, damit die
Kontrapunkte richtig sitzen und die Tonarten passend eingesetzt werden. Es gibt
ja Leute, die auch so Musik hören – ich selbst höre es nicht, wenn ein
Tonartwechsel stattfindet oder was die Trickkiste da sonst so hergibt – obwohl
ich das alles in der Schule gelernt habe. Geschrieben haben die
musiktheoretischen Abhandlungen außer den Komponierenden selbst durchaus auch
Leute, die sich damit auskennen, und die behaupten, sofort hören zu können,
wenn sie mit einem was-weiß-ich für einem Akkord in was-weiß-ich für eine
Stimmung versetzt werden sollen. Thomas Mann hat den allwissenden Musikkennern
und Kritikern mit der Figur des Wendell Kretzschmar im Doktor Faustus ein
herrlich persiflierendes Denkmal gesetzt.
Nein, ich glaube nicht, dass die Deutschen empfänglicher für den Zauber der
Musik sind als andere so genannte Völker. In den oben erwähnten Statistiken über
die Pro-Kopf-Ausgaben für Musik ist Deutschland ja auch nicht an erster Stelle,
sondern an fünfter oder sechster, und der Abstand zum ersten beträgt in etwa ein Viertel.
Musik ist ein universelles Ausdrucksmittel. Man höre sich doch mal im Internet
verschiedene Nationalhymnen an. Die klingen alle irgendwie ähnlich, und die
Musikwissenschaft versichert mir, das komme daher, dass sie fast alle in Dur
gehalten sind. Gerne auch im 4/4- Takt – da lässt es sich gut dazu marschieren.
Dieser und ähnliche Effekte funktionieren auf der ganzen Welt.
Ich glaube, die deutsche Sonderrolle in der Musik ist eine rein
quantitative Größe, und das hatte ursprünglich ganz einfach damit zu tun, dass
es in den Gebieten, die wir heute Deutschland nennen, in den für die
Musikentwicklung entscheidenden Jahrhunderten einen wesentlich größeren Markt
für Musik und professionelle Musiker gegeben hat als im übrigen Europa, und
dass es somit ganz schlicht eine Angelegenheit von Angebot und Nachfrage war
und ist.
Die unsichtbare Hand des Marktes
Als sich die europäische Musik zu ihrer Hochform entwickelte, zwischen 1600
und 1800, war Deutschland ein Land der Fürstenhöfe. Während sich die anderen
großen europäischen Länder zentralisierten, war dieses Deutschland nach den
Religionskriegen nur zu befrieden gewesen, indem man jedem Kleinregenten in seinem
Territorium größtmögliche Souveränität zubilligte. Das hieß, dass kulturelles
Leben sich nicht wie etwa in Frankreich an einem einzigen alles andere
überstrahlenden Königshof abspielte, sondern dass es eine Unzahl von kleinen
und kleinsten Hofhaltungen gab, von denen viele sich bei aller Kleinheit nichts
weniger als das Versailles Ludwigs XIV zum Vorbild nahmen. Als sich diese Ära
dem Ende zuneigte, verhöhnte Georg Büchner in seiner Komödie ‟Leonce und Lena”
die vielen Kleinstfürstentümer als Reich Pipi und Reich Popo.
Und während Frankreich zwischen 1600 und 1800 gerade
mal drei Komponisten hervorgebracht hat, deren Namen noch heute allgemein bekannt
sind, Jean-Baptiste Lully (der eigentlich Italiener war) François Couperin und Jean-Philippe
Rameau, gibt es ungleich mehr Komponisten aus den deutschsprachigen
Territorien.
An den Höfen langweilte man sich, also heuerte man sich Musikanten an;
übrigens gab es nicht nur in Deutschland so viele davon. Auch Italien war in
eine Vielzahl von kleinen Territorien und Herrschaften zersplittert, und auch
italienische Musiker haben die europäische Musik entscheidend mitgeprägt. In
der Zeit, in der die deutschen Komponisten wirklich vorherrschend wurden, im
Barock, war aber in Deutschland noch eine weitere treibende Kraft
hinzugekommen: der Protestantismus lutherischer Prägung, der der Musik nicht
nur im Gottesdienst, sondern auch im Familienleben eine hohe Bedeutung zumisst.
Es fehlte also nie an Menschen, die musizieren konnten, und es fehlte nie
an Auftraggebern, die die Musiker nicht zuletzt für ihre Selbstinszenierung
brauchten. Reich wurde man nicht als Musiker, aber man hatte sein Auskommen,
und Wagners erste Frau Minna hat noch im mittleren 19. Jahrhundert nicht verstehen
können, warum es ihrem Richard nicht genügte, Kapellmeister an einem deutschen
Provinzhof zu sein.
Wie der Adel, so die Bürger
Aus dieser Marktsituation entwickelte sich die Musik im bürgerlichen
Zeitalter weiter. Die Höfe verloren allmählich an Bedeutung, aber wieder war es
das Fehlen einer zentralen Hauptstadt und ihrer Kultur konsumierenden Mittel-
und Oberschicht, die in Deutschland (wie in Italien) die Entwicklung eines
vielfältigen Musiklebens bis in die tiefste Provinz hinein ermöglichte. Wie der
fürstliche Lebensstil des 18. Jahrhunderts, so war auch das aufsteigende
Bürgertum des 19. über das ganze Land verteilt und nicht nur auf eine
Hauptstadt konzentriert. In der Zeit, in der man gerne viel in die deutsche
Musik hineingeheimnisste, wurde auch deutsches bürgerliches Familienleben gerne
romantisch überhöht – was eignete sich da besser als eine Darstellung des
großen Bach im Kreise seiner Lieben wie auf diesem Gemälde der Familie Bach von
Edward Rosenthal aus dem Jahr 1870:
Quelle: picture-alliance
/ akg-images/akg-images
Schon 1781 wird das Leipziger Gewandhaus zur Heimstätte eines Orchesters,
das bis heute diesen Namen trägt. In vielen deutschen Städten sind im Lauf des
19. Jahrhunderts vergleichbare Orchestergründungen, In-Besitznahmen bestehender
Gebäude für Konzertzwecke und später auch Neubauten von Konzertsälen zu
beobachten. In der Oper fand die gleiche Entwicklung statt – aber es dauerte
etwas länger. Die reiche Hansestadt Hamburg leistete sich bereits in der
Barockzeit ihr eigenes Opernhaus, aber im übrigen Deutschland mussten erst die
Komponisten des 19. Jahrhunderts neue Impulse für eine ‟deutsche” Opernkunst
setzen, bevor das Bürgertum sich in seiner ganzen Breite dafür begeistern
konnte. Und diese ganze Breite hieß in Deutschland, auch das Bürgertum war und
blieb über das gesamte Staatsgebiet verteilt, und nicht in einer einzigen
Hauptstadt konzentriert.
Als Herkunftsort seines Tonsetzers Adrian Leverkühn denkt
sich Thomas Mann die mitten in Deutschland gelegene Kleinstadt Kaisersaschern
aus, die alles in sich vereinigt, was sich so über die deutsche Kulturprovinz
sagen lässt. (vgl. Borchmeyers Kapitel ‟Das Deutsche im Spannungsfeld von
Provinz, Nation und Welt”).
Im 19. Jahrhundert hörten Komponisten und Musiker auf, Lakaien der Fürsten
zu sein, sondern mussten sich auf dem sich bildenden Markt bewähren. Das haben
viele von ihnen so gewollt. In dem Film ‟Amadeus” wird dargestellt, wie schon Mozart
darunter gelitten hat, am Salzburger Bischofshof nur komponieren und aufführen
zu dürfen, was vorgeschrieben war. Joseph Haydn lebte auf, als er in London von
Leuten gefeiert wurde, die seine Musik schätzten, und nicht wie sein Brotherr
einfach erwarteten, mehr oder weniger täglich ein neues Stück vorgedudelt zu
bekommen. Auch der Virtuose wird in dieser
Zeit zur öffentlichen Person. Der kleine Mozart (1756-1791) hat noch fast
ausschließlich an Höfen und in anderen Privathäusern vorgespielt, und er wurde
durch Empfehlungen weitergereicht, aber der Vater des kleinen Beethoven
(1770-1827) und eine Generation später der Vater der kleinen Clara Wieck,
spätere Schumann (1819-1896), machten schon regelrecht Werbung für öffentliche Konzerte
mit dem Kind. Das junge Alter des Kindes wurde betont, der alkoholkranke Beethoven
Senior hat sogar nach unten geschummelt. Der erste richtige Popstar der
Musikszene war Liszt (1811-1886).
Marktrealität und was der machtlose Bürger daraus für Theorien bastelt
So wie man gegen Ende des 18. Jahrhunderts begann, sich wissenschaftlich
mit den Künsten zu beschäftigen – die Grimms und ihr Kreis mit Sprache und
Literatur, Winckelmann und andere mit der bildenden Kunst – so beschäftigte man
sich auch mit Musiktheorie und -ästhetik, und aus der einfachen quantitativen Reichhaltigkeit
des musikalischen Angebots in Deutschland wurden die abenteuerlichsten Schlüsse
über die Beschaffenheit und qualitative Überlegenheit der deutschen Musik
gezogen. Hinzu kam, dass das Bürgertum seinen noch in der Revolution von 1848
manifestierten Machtanspruch an die alten Obrigkeiten halb abgetreten, halb
verloren hatte. Da konnte man trefflich spintisieren über den über allen
Wassern schwebenden deutschen Geist, der dereinst die Welt retten werde – sowas
findet sich fast wörtlich bei Wagner. Selbstredend empfand er die von ihm
selbst und von anderen Deutschen geschaffene Musik als die reinste Äußerung
dieses Geistes.
Man kann das alles heute nicht mehr lesen! Borchmeyer referiert ausführlich
die Auseinandersetzung des Emigranten Thomas Mann mit Hans Pfitzner, der nicht
nur daheim geblieben war, sondern sich auch vom Nazi-Regime als ‟deutscher
Künstler” hatte instrumentalisieren lassen. Das wirkt auch im Abstand von mehr
als einem halben Jahrhundert nur noch toxisch, und man ist froh, dass diese
Zeiten vorbei sind. Dieser Text war nicht als Rezension von Borchmeyers Buch
gedacht, ich empfehle es aber als einen Gewinn für alle, die sich mit dem
Begriff der Nation und der Frage, was denn nun eigentlich deutsch ist (und was
denn bitteschön eine deutsche Leitkultur sein soll), sachlich auseinandersetzen
möchten.
https://www.rowohlt.de/hardcover/dieter-borchmeyer-was-ist-deutsch.html