Vom ‟unverschämten Unflat” zur ‟mythologischen
Hauptperson” der Deutschen –
und zurück?
und zurück?
Dies ist ein sehr
lesenswerter Beitrag zum Werdegang der Faustfigur von der volkstümlichen
Legende über Puppenspiele, Erbauungstexte und schließlich dramatische
Adaptionen bis hin zum ultimativen Faust-Werk des obersten Dichterfürsten, in
dem wir die Faustfigur als emblematisch für die vielen Dilemmata des modernen
Menschen erleben.
Soweit ich das
beurteilen kann, ist es ein umfassender quellen- und ideengeschichtlicher
Überblick – allerdings fällt mir eine eklatante Auslassung auf. Goethes
Tragödie besteht aus zwei Handlungssträngen: Fausts Verzweiflung an der Welt
und ihrem Wissen und seine daraus erwachsende Beziehung zum Teufel mit ihren
Ausflügen ins pralle Leben und auf den Blocksberg einerseits und andererseits
die Gretchen-Geschichte mit ihrem tragischen Ende.
Man findet in
Manuel Bauers Text keinerlei Hinweis auf diese Handlungsebene oder auf die
Gretchenfigur. Warum finde ich, dass das eine eklatante Auslassung ist? Weil erst
durch diese Handlungsebene das Gleichnishafte der mittelalterlichen
Fausterzählung aufgebrochen wird, und weil man die Faustgestalt erst durch
diese Handlungsebene als realen, handelnden Menschen wahrnehmen kann. Erst
durch diese Handlungsebene wird das Ganze damit zu einem modernen Drama, auch
wenn die Geschichte eindeutig im Mittelalter angesiedelt ist.
Die Goethesche
Gretchenfigur hat keinerlei Vorläuferinnen in den verschiedenen Vorläuferstadien
des Fauststoffes. Sie ist die eigentliche Neuheit in dieser Adaption der Faust-Geschichte.
Sie ist ein Wesen aus dem wirklichen Leben, eine junge Frau von einfachem
Stand, ungebildet, wie sich das für solche Frauen gehörte, und man kann sonst
wenig über sie sagen, außer dass sie schön und fromm ist. Ihre Unschuld und
Unverdorbenheit, ja, ihre Unwissenheit faszinieren den lebens- und
wissensüberdrüssigen Faust. Er beauftragt Mephisto, ihm mit seinen
Zauberkünsten zu helfen, Gretchens Keuschheitspanzer zu knacken und das ‟junge
Blut” wird vernascht. Für Faust hat das keine Folgen, und er vergisst die Episode.
Für Gretchen aber hat es Folgen, und sie wird zum Opfer einer unsäglichen
Doppelmoral, die sich in Goethes eigener Zeit seit dem Mittelalter noch nicht
geändert hatte. Bis in die allerjüngste Vergangenheit musste Gretchens Schicksal
dafür herhalten, junge Frauen vor außerehelicher und/oder nicht-standesgemäßer Hingabe
zu warnen.
Zum realen,
handelnden Menschen wird Faust in der Beziehung zu einer realen Frau, die
anders als das Phantombild der Schönen Helena, das von Anfang an zum Fauststoff
gehört, echte Gefühle hat und zu Glück und Schmerz fähig ist. In der gleichen
Ausgabe von www.literaturkritik.de kann man einen Text von Thomas Anz nachlesen, in
dem anhand von Gretchens ‟meine Ruhʼ ist hin … ” – Monolog diese
Gefühlswelt nachgezeichnet wird. Faust, der moderne Mann, steht dieser
Gefühlswelt vollkommen taub und blind gegenüber. Als sie sich zum zweiten Mal
begegnen, hat er nur dafür Interesse, wie er denn bei der ersten Begegnung auf
das Mädchen gewirkt hat, nicht dafür, was sie ihm erzählt. Auch später, als er
einmal wertschätzt, was sie ihm erzählt, klingt sein Kompliment recht hohl –
was sie ihm erzähle, sei interessanter als gelehrte Abhandlungen. Das ist ein
leicht durchschaubarer Teil einer plumpen Verführungsstrategie.
Zum ‟Verweile doch, du
bist so schön … ” reicht die Begegnung mit Gretchen für Faust aber nicht, und
der Verführer macht sich aus dem Staub, nachdem er sein Ziel erreicht hat.
Dieses männliche Verhalten ist universell und unabhängig vom Zeitalter. Immerhin
kriegt er Gewissensbisse, als er sie in ihrem Elend wiedersieht, und er
versucht, sie zu retten. Doch am Ende des Zweiten Teils rettet sie ihn [unverdientermaßen]
in die ewige Seligkeit – nachdem er sie in der realen Welt ins Unglück und in
den Tod gestürzt hat und nicht zu retten vermochte. Auch hier ist Goethe
bahnbrechend: Das Motiv des Haltlosen, der durch eine aufopferungsvolle Frau erlöst
wird, hat sich bei vielen Künstlertitanen des 19. Jahrhunderts größter
Beliebtheit erfreut.
Wenn Goethe also
schon so genial ist, mit einer wunderbar gezeichneten Frauengestalt die Moderne
einzuläuten, dann sollte man das auch honorieren und das arme Gretchen nicht auch
noch durch Ignorieren strafen. Sie ist genug gestraft dafür, dass sie auf den
blöden Faust hereingefallen ist.
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