Heute fand ich folgenden Tweet:
Fast 2700mal ist dieser Tweet seit letzten September favorisiert
worden. Das finde ich bemerkenswert, denn ich bin auf Twitter auch schon darauf
hingewiesen worden, die Netiquette verlange, dass man sich hier duze.
Vor einiger Zeit habe ich schon einmal was zu diesem Thema gebloggt,
damals aber nur kurz, und aus Anlass eines Tweets von Tilo Jung, in dem er
bekannt gab, dass ein geplantes Interview mit Wolfgang Thierse ausfallen müsse,
da Herr Thierse sich nicht auf sein (Jungs) Geduze einlassen wolle. Wibke
Ladwig antwortete darauf, sie sei überrascht, denn sie habe gedacht, ”Thierse
sei da offener und entspannter“ http://elkasloan.blogspot.de/2013/09/lasst-mir-blo-herrn-thierse-in-ruhe.html
Auf Anfrage hat mich Tilo Jung damals informiert, Wolfgang
Thierse sei in seiner Praxis bislang, also im Herbst 2013, der Einzige gewesen,
der nicht per Du interviewt werden wollte. Auch das hat mich überrascht.
Ausgehend von der Frage ”Duzen-oder-nicht“ kann man ja eine
ganze Reihe von Themen abhandeln – Internet-bezogen oder nicht:
- Die Kluft zwischen den Altersgruppen/Generationen
- Der Wandel des Internets von der Nerd-Spielwiese zum Universalmedium, in dem sich die gesamte Gesellschaft widerspiegelt
- Sprache als Spiegel der Gesellschaft
- Die Frage, wie wir in dieser Gesellschaft miteinander umgehen
- Einflüsse von außen auf die Sprache (jaja, die Anglizismen)
- Äußere Einflüsse darauf wie wir miteinander umgehen
- Und überhaupt der Wandel von allem und jedem in unserer Gesellschaft
Angeblich haben sich in der Zeit unmittelbar nach dem 2.
Weltkrieg die Studenten in Deutschland noch untereinander gesiezt, aber das hat
sich dann schnell verflüchtigt und wir betrachten es heute als selbstverständlich,
wenn sich junge Leute untereinander duzen. Entsprechend gehört es zur
Initiation in den Erwachsenenstatus, dass man peu à peu von Erwachsenen gesiezt
wird.
Wenn Menschen dann etwas älter werden – und ich meine über
dreißig – und sie wollen aber noch nicht ganz wahrhaben, dass sie jetzt in eine
andere Lebensphase eintreten, dann gehen sie gern mal irgendwohin wo sie
glauben, dass man es nicht merkt, dass sie schon etwas älter sind. Und dann
duzen sie alle um sich herum, und irgendwann merken sie, dass gar keiner mehr
um sie herum steht, weil die anderen, die jüngeren, gemerkt haben: hier will
sich einer anbiedern.
Die Zeit, in der sich das Anredeverhalten junger Leute
untereinander gewandelt hat, war auch die Zeit, in der sich das Land (ich bin
Wessi und meine die alte BRD) von einer autoritär, hierarchisch und klerikal
geprägten Gesellschaft zu einer offenen, liberalen Gesellschaft gewandelt hat. Aber
auch wenn man sich heute unter Fremden vielleicht schneller duzt als in den
50-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, ist doch das ”Sie“ keineswegs
abgeschafft. Bei unseren nordischen Nachbarn ist es etwas schneller gegangen – in
den 70-er Jahren war es in Schweden üblich mit der Begrüßung zu indizieren, ob
man Wert auf eine ”Sie“-Anrede legte, oder ob ”du“ ok war, und inzwischen sagt
dort keiner mehr ”Sie“. Ich bin ziemlich sicher, dass das bei uns auch
irgendwann mal so sein wird, doch genauso sicher bin ich, dass das hier und
heute noch nicht der Fall ist.
Am blödesten in dem Zusammenhang finde ich ja den Hinweis
auf irgendeine Netikette. Mit dem ganzen Internet ist auch der Begriff
Netikette oder Netiquette über den Atlantik zu uns geschwappt und wie so vieles
was über den Atlantik schwappt, wird es gar nicht oder nur halb verstanden und/
oder völlig entstellt übernommen.
So wie das Wort Netiquette in den Vorläufern unserer
Sozialen Medien gemeint war, bedeutete es das, womit wir noch heute ringen: Dass
die Gepflogenheiten des zivilisierten Umgangs miteinander doch bitte nicht plötzlich
außer Kraft sind, bloß weil wir uns nicht gegenübersitzen und über ein Medium
miteinander kommunizieren. Es bedeutete also, einen gewissen höflichen Abstand
zu wahren und sich auch weiterhin als Menschen und Bürger zu respektieren. Übertragen
auf das Thema Duzen/Siezen interpretiere ich das als ”im Zweifel wird gesiezt“.
In Zeiten, als ich mich als Sprachcoach betätigte, habe ich
immer als erstes versucht, meinen Lernenden klarzumachen, dass WEDER die Einheitsanrede
im Englischen, NOCH die Tatsache, dass sich Alle beim Vornamen anreden, zu bedeuten
haben, dass die Alle ”per du“ sind. Man muss da auf die Zwischentöne hören, um
abzuschätzen, welchen Grad der Vertraulichkeit man voraussetzen darf und
welchen nicht. Linguisten nennen sowas Subtext, Soziologen sprechen von
para-Sozialität.
Nicht zuletzt wegen dieser fehlenden Genauigkeit im
alltäglichen Umgang außerhalb der unmittelbaren Familie haben Deutsche oft so
große Probleme mit der englischen Sprache. Sie beherrschen die Sprache, aber sie
sind unfähig, sich den Subtext anzueignen. Wir habens halt doch noch gern
ein bisschen formell, wenn wir jemanden nicht kennen. Ich finde das Siezen
steht uns ganz gut zu Gesicht, und wir sollten es nicht einer falsch
verstandenen Globalisierungseuphorie opfern. Gerade in der globalisierten Welt
ist Höflichkeit und freundliche Distanz kein schlechter Ratgeber. Damit meine
ich natürlich nicht, dass Duzen notwendigerweise unhöflich ist, aber ich meine
durchaus, dass es manchmal ein bisschen übergriffig sein kann.
Ganz schlimm finde ich es, wenn ich als potenzieller Kunde geduzt
werde. Wie kommen die dazu – die wollen mein Geld, die haben mir respektvoll
gegenüberzutreten. Ich sehe die unterschiedlichen Ansprachen, die wir im Deutschen
haben als Möglichkeit, Heranwachsenden klarzumachen, dass man sich Leuten, die
einem ans Geld wollen, nur vosichtig nähern sollte. Jugendliche müssen lernen
mit Geld umzugehen und einzuschätzen, welcher Kauf sich lohnt und welcher
nicht. Heute leben wir alle in der totalen Kommerzwelt, und die Jugendlichen
haben es viel, viel schwerer als alle Generationen vor ihnen. Und es passiert was
ganz Komisches: In einem Laden freut man sich, dass man gesiezt, d.h. ernst
genommen wird und gibt vielleicht deswegen zu viel Geld aus, aber der/die selbe
Jugendliche, der/die eben noch im Laden stolzgeschwellt seine/ihre Transaktion
per Sie durchgezogen hat, freut sich im nächsten Moment über eine tolle
Webseite, wo man sich duzend auf Jugendliche eingestellt hat und ”holt sich“, was
er/sie sich eigentlich nicht leisten kann.
Es gibt also auch bei uns Subtexte und vertrackte
parasoziale Beziehungen, und nicht Alles lässt sich einfach durch die
unterschiedliche Anrede regeln. In der Anonymität des Internets finde ich es sehr
nützlich, dass man durch eine formelle Anrede, Höflichkeit, oder wie immer man
es nennen möchte, Distanz halten kann und so anderen denselben Respekt erweisen
kann, den man selbst erwartet.
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