Dienstag, 30. September 2014

Gebt euch mehr Mühe beim Schreiben! Ein sprach-ästhetischer Zwischenruf





Die moderne Medizin und die Lebensmittel-Aufsicht haben dafür gesorgt, dass heutzutage niemand mehr Darmparasiten zu fürchten braucht, und diejenigen Arten, die auf den Homo Sapiens als Wirtstier angewiesen sind, haben zumindest bei uns ernsthafte Überlebensprobleme. Eine Gattung dieser Lebensgefährten hat allerdings in einem sehr deutschen Wort überlebt. Ich meine den Bandwurm. Anders als manche andere Parasiten fristet der, eingebettet in das Kompositum „Bandwurmsatz“ ein zufriedenes Dasein, um das andere Parasiten seiner Art ihn nur beneiden können.  

Man sollte meinen, dass eine Sprache gut auf sich aufpasst, wenn sie Sätze, die wegen ihrer Länge unverständlich sind, mit einem so unangenehmen Tier wie einem Darmparasiten bezeichnet. Weit gefehlt. Hier ist ein Beispiel dafür, wie man nicht schreiben sollte. Ich habe bewusst eins genommen, das von einem über jede Kritik erhabenen großen Geist stammt, von Karl Kraus. Ich hätte auch eins von einem anderen der Großen seiner Zeit oder von einem Heutigen nehmen können. 

Geschrieben hat Karl Kraus das Folgende nach dem ersten Weltkrieg. Er war einer der wenigen, die diesen Krieg und die, die ihn eskalieren ließen, von Anfang an verurteilt hat. Es soll hier also ausdrücklich nicht um inhaltliche Kritik gehen. Man kann ihm aus heutiger Sicht nur zustimmen – wenn man einmal verstanden hat, was er denn meint.

 „Keineswegs hat die deutsche Intelligenz, welche wie die keines andern Landes, vom ersten Dichter bis zum letzten Reporter, vom ersten Völkerrechtsprofessor bis zum letzten Pastor, in der feldgrauen Materie gesiehlt, im fremden Bluterlebnis geschwelgt, ja vielfach von dieser Haltung ihre Existenz gefristet und durch den Claqueurdienst für Haudegen die eigene Unversehrtheit errungen hat, keineswegs hat die Barbarei der Bildung auch nur den geringsten Anspruch auf Mitleid […].“

Äh, wer hat hier was gemacht, wer hat keinen Anspruch auf Mitleid, und warum?
Ich hab das mal umgeschrieben:

„Mitleid für die deutsche Intelligenz? Keineswegs. Wie in keinem anderen Land hat die deutsche Intelligenz vom ersten Dichter bis zum letzten Reporter, vom ersten Völkerrechtsprofessor bis zum letzten Pastor, in der feldgrauen Materie gesiehlt, im fremden Bluterlebnis geschwelgt, und sich ihre eigene Unversehrtheit durch den Claqueurdienst für die Haudegen errungen. Nein, diese Barbarei der Bildung hat auch nicht den geringsten Anspruch auf Mitleid … “

Was habe ich gemacht? Ich habe nur auf Hauptsätze umgestellt, und schon kriegt man beim ersten Lesen mit, was dieser Absatz eigentlich sagen soll. Durch die vorangestellte rhetorische Frage habe ich den polemischen Ton noch verstärkt, und ich habe selbstverständlich alle Injurien beibehalten, denn die Injurien sind es ja, die Kraus ausmachen und wegen derer wir ihn heute noch verehren. 

Warum habe ich mir die Mühe gemacht, dieses Exempel zu statuieren?
Einmal natürlich aus beruflichen Gründen – obwohl mich gelegentlich jemand dafür bezahlt, dass ich Texte lesbarer mache, wäre es mir manchmal lieber, das wäre nicht nötig. Es tut einfach weh, manche Sachen zu lesen. 

Diese Aussage bringt mich zum zweiten Motiv für meine Gedanken: Wie kann irgendwer erwarten, dass unser Nachwuchs noch unsere Altvorderen zu schätzen weiß, wenn die so geschrieben haben wie der oben zitierte Satz? Und was bieten wir ihnen für Texte an, mit denen sie lernen können, einer Fragestellung erst einmal zu folgen, sie dann zu durchdenken, und vielleicht auch selbst eine schriftliche Stellungnahme dazu zu verfassen?

Es wird oft angeführt, die deutsche Sprache sei nun einmal so. Wie kommt es dann, dass es immer wieder Stilisten gibt, die man hervorragend lesen kann, und bei denen man auf Anhieb versteht, was sie meinen? Nein, das Sich-Berufen auf die Eigenheiten der deutschen Sprache ist ein schwacher Vorwand für Schreiber, die sich einfach keine Mühe geben, und die glauben, ein Text werde gewichtiger, wenn er aus was weiß ich wie vielen ineinander verschachtelten Nebensätzen besteht.