Mittwoch, 9. Mai 2018

Kleine Randbemerkung




Vom unverschämten Unflat zur mythologischen Hauptperson der Deutschen –
und zurück?
Wandlungen des literarischen Faust-Mythos in mehr als 500 JahrenVon Manuel Bauer

Dies ist ein sehr lesenswerter Beitrag zum Werdegang der Faustfigur von der volkstümlichen Legende über Puppenspiele, Erbauungstexte und schließlich dramatische Adaptionen bis hin zum ultimativen Faust-Werk des obersten Dichterfürsten, in dem wir die Faustfigur als emblematisch für die vielen Dilemmata des modernen Menschen erleben.

Soweit ich das beurteilen kann, ist es ein umfassender quellen- und ideengeschichtlicher Überblick – allerdings fällt mir eine eklatante Auslassung auf. Goethes Tragödie besteht aus zwei Handlungssträngen: Fausts Verzweiflung an der Welt und ihrem Wissen und seine daraus erwachsende Beziehung zum Teufel mit ihren Ausflügen ins pralle Leben und auf den Blocksberg einerseits und andererseits die Gretchen-Geschichte mit ihrem tragischen Ende.

Man findet in Manuel Bauers Text keinerlei Hinweis auf diese Handlungsebene oder auf die Gretchenfigur. Warum finde ich, dass das eine eklatante Auslassung ist? Weil erst durch diese Handlungsebene das Gleichnishafte der mittelalterlichen Fausterzählung aufgebrochen wird, und weil man die Faustgestalt erst durch diese Handlungsebene als realen, handelnden Menschen wahrnehmen kann. Erst durch diese Handlungsebene wird das Ganze damit zu einem modernen Drama, auch wenn die Geschichte eindeutig im Mittelalter angesiedelt ist.

Die Goethesche Gretchenfigur hat keinerlei Vorläuferinnen in den verschiedenen Vorläuferstadien des Fauststoffes. Sie ist die eigentliche Neuheit in dieser Adaption der Faust-Geschichte. Sie ist ein Wesen aus dem wirklichen Leben, eine junge Frau von einfachem Stand, ungebildet, wie sich das für solche Frauen gehörte, und man kann sonst wenig über sie sagen, außer dass sie schön und fromm ist. Ihre Unschuld und Unverdorbenheit, ja, ihre Unwissenheit faszinieren den lebens- und wissensüberdrüssigen Faust. Er beauftragt Mephisto, ihm mit seinen Zauberkünsten zu helfen, Gretchens Keuschheitspanzer zu knacken und das junge Blut” wird vernascht. Für Faust hat das keine Folgen, und er vergisst die Episode. Für Gretchen aber hat es Folgen, und sie wird zum Opfer einer unsäglichen Doppelmoral, die sich in Goethes eigener Zeit seit dem Mittelalter noch nicht geändert hatte. Bis in die allerjüngste Vergangenheit musste Gretchens Schicksal dafür herhalten, junge Frauen vor außerehelicher und/oder nicht-standesgemäßer Hingabe zu warnen.

Zum realen, handelnden Menschen wird Faust in der Beziehung zu einer realen Frau, die anders als das Phantombild der Schönen Helena, das von Anfang an zum Fauststoff gehört, echte Gefühle hat und zu Glück und Schmerz fähig ist. In der gleichen Ausgabe von www.literaturkritik.de kann man einen Text von Thomas Anz nachlesen, in dem anhand von Gretchens meine Ruhʼ ist hin … – Monolog diese Gefühlswelt nachgezeichnet wird. Faust, der moderne Mann, steht dieser Gefühlswelt vollkommen taub und blind gegenüber. Als sie sich zum zweiten Mal begegnen, hat er nur dafür Interesse, wie er denn bei der ersten Begegnung auf das Mädchen gewirkt hat, nicht dafür, was sie ihm erzählt. Auch später, als er einmal wertschätzt, was sie ihm erzählt, klingt sein Kompliment recht hohl – was sie ihm erzähle, sei interessanter als gelehrte Abhandlungen. Das ist ein leicht durchschaubarer Teil einer plumpen Verführungsstrategie.

Zum ‟Verweile doch, du bist so schön … ” reicht die Begegnung mit Gretchen für Faust aber nicht, und der Verführer macht sich aus dem Staub, nachdem er sein Ziel erreicht hat. Dieses männliche Verhalten ist universell und unabhängig vom Zeitalter. Immerhin kriegt er Gewissensbisse, als er sie in ihrem Elend wiedersieht, und er versucht, sie zu retten. Doch am Ende des Zweiten Teils rettet sie ihn [unverdientermaßen] in die ewige Seligkeit – nachdem er sie in der realen Welt ins Unglück und in den Tod gestürzt hat und nicht zu retten vermochte. Auch hier ist Goethe bahnbrechend: Das Motiv des Haltlosen, der durch eine aufopferungsvolle Frau erlöst wird, hat sich bei vielen Künstlertitanen des 19. Jahrhunderts größter Beliebtheit erfreut.

Wenn Goethe also schon so genial ist, mit einer wunderbar gezeichneten Frauengestalt die Moderne einzuläuten, dann sollte man das auch honorieren und das arme Gretchen nicht auch noch durch Ignorieren strafen. Sie ist genug gestraft dafür, dass sie auf den blöden Faust hereingefallen ist.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen