Dienstag, 2. Januar 2018

Die Deutschen und ihre Musik

‟ … Prozess der Auflösung, der Entfremdung, des Entsteigens ins nicht-mehr-heimatliche und -geheure, vor einem plus-ultra eben …, worin sie nichts anderes mehr als eine Ausartung immer vorhanden gewesener Neigungen, einen Exzess an Grübelei und Spekulation, ein Übermaß an Minutiosität und musikalischer Wissenschaftlichkeit …” 
Thomas Mann, Doktor Faustus

Dann hört er sich die Platte mit der H-Moll-Messe an
Weil er nicht einmal privat mehr völlig unverstellt sein kann

Franz-Josef Degenhardt, Erschröckliche Moritat vom Kryptokommunisten

In ihrem 2011 erschienenen Opus Die deutsche Seele schrieben Thea Dorn und Richard Wagner unter dem Stichwort Musik sinngemäß, in der Malerei und anderen europäischen Kunstsparten würde es nicht weiter auffallen, denke man sich die namhaften Deutschen daraus weg, die europäische Musik sei hingegen ohne ihre deutschen Protagonisten nicht denkbar. Dieter Borchmeyer widmet in seinem kürzlich erschienenen Buch ‟Was ist deutsch?” dem ‟Paradigma der deutschen Musik” mehr als hundert von über achthundert Seiten, denn das Thema wird nicht nur in dem so überschriebenen Kapitel abgehandelt.

Bis zum heutigen Tag ist der deutsche Musikmarkt einer der einträglichsten der Welt – quer durch alle Sparten hindurch – alle treten sie hier auf, und alle sind willkommen, und sie verkaufen jede Menge Tonträger. In allen Sparten wohlgemerkt, von der Renaissancemusik/Klassik und Romantik über Zwölfton, Jazz, Rock ’n Roll bis hin zu den Sphärenklängen des New-Age. Diverse Marktstatistiken platzieren uns an fünfter oder sechster Stelle unter den reichen Ländern der Welt, wenn es um persönliche Ausgaben für Musik geht.

Die Deutschen lieben Musik, sie besuchen Konzerte, hören viel über ihre Kopfhörer und Heim-Anlagen, und zirka 10% der Bevölkerung spielen ein Instrument, singen im Chor oder betätigen sich sonstwie in der Laienmusikszene. 

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs glaubte Richard Strauß, es gebe in Deutschland 80 Opernhäuser. Er sagte das in einem Interview mit dem amerikanischen Presseoffizier Klaus Mann, dem Sohn von Thomas Mann, ohne sich im Klaren zu sein, mit wem er da sprach, und offenbar ohne realisieren zu können, dass diese Opernhäuser genauso in Trümmern lagen wie der Rest des Landes. Die Opernhäuser wurden alle wieder aufgebaut. Heute hat das wiedervereinigte Deutschland immerhin noch 80 ‟feste Opernensembles”, wenn nicht Häuser. Symphonieorchester haben wir 130, das sind doppelt so viele pro 100.000 Einwohner wie in den USA, und die erfreuen selbst in kleinen Städten wie Erfurt oder Ludwigsburg ihr Publikum. Ich bin deshalb sicher, dass die Statistiken der Marktforscher nicht erfassen, was die öffentlichen Hände und die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland für Musik ausgeben.

Ich erwähne das nur, weil es mich zu meinem eigentlichen Thema bringt, nämlich der Frage, woran das liegt, dass Deutschland so ein Musikland ist, dass die europäische Musik so stark von deutschen Komponisten und Musikern geprägt worden ist. Sind die Deutschen musikalischer als andere europäische Nationen? Es gibt wenige Themen, bei denen die Kulturtheoretiker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts so viel Schwulst, nationalistisch/ rassistischen Wahn und Pseudowissenschaft bemüht haben wie bei der Frage nach der Musik in der deutschen Kultur. ‟Kann man Musiker sein, ohne deutsch zu sein?” fragt Thomas Mann in den ‟Betrachtungen eines Unpolitischen” gegen Ende des Ersten Weltkriegs. (Der Gerechtigkeit halber muss angemerkt werden, dass Thomas Mann im selben Text auch sagt, das eine Kunst, die etwas zähle, ‟dem allgemeinen Prozess demokratischer Internationalisierung“ unterliege.)  Angefangen hat der Schwulst mit Richard Wagner, dem wir keineswegs nur das eine unsägliche Machwerk vom ‟Judenthum in der Musik” zum Thema Musikästhetik und ‟Deutschthum” zu verdanken haben; weitergegangen ist es mit Pfitzners deutschtümelnder Anbiederei bei den Nazis, bis hin zum Händeringen in den Nachkriegsfeuilletons, als plötzlich nicht-deutsche Dirigenten daherkamen und die Berliner Philharmoniker mit Beethoven und dann sogar – horribile dictu – Wagner in Bayreuth zu dirigieren anfingen.

Es gab in diesem Land bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg wirklich Menschen, die der Ansicht waren, ‟deutsche” Musik könne nur von Deutschen interpretiert oder dirigiert werden. Die deutsche Musik wurde als die Musik schlechthin gesehen; sie galt als die höchste Errungenschaft und überhaupt der Gipfel der deutschen Kultur, und weil es rein mengenmäßig nichts Vergleichbares in Europa gab, muss nicht eigens betont werden, welche Überlegenheitsgefühle man daraus ableiten konnte. Manchmal habe ich den Eindruck, dass dieses Denken nie ganz verschwunden ist, bei aller Globalisierung des Musikbetriebes. Oder vielleicht feiert es derzeit eine Renaissance, gerade wegen dieser Globalisierung, in deren Folge sich nun jede/r noch so Begabte im unübersehbaren Wettbewerb mit ebensolchen Musizierenden aus der ganzen Welt befindet?

Bleibt die Frage, warum deutsche Musiker auf die Entwicklung der europäischen Musik einen so starken Einfluss hatten. Ich glaube nicht, dass die Deutschen irgendein Musik-Gen haben oder dass sie sensibler – empfänglicher für das Metaphysische, sich dem Verstand Entziehende in der Musik – sind als andere auf der Welt. Diese Metaphysik spielt sich nur im Kopf der Hörenden ab – die Komponierenden müssen sehr wohl ihren Verstand gebrauchen, damit die Kontrapunkte richtig sitzen und die Tonarten passend eingesetzt werden. Es gibt ja Leute, die auch so Musik hören – ich selbst höre es nicht, wenn ein Tonartwechsel stattfindet oder was die Trickkiste da sonst so hergibt – obwohl ich das alles in der Schule gelernt habe. Geschrieben haben die musiktheoretischen Abhandlungen außer den Komponierenden selbst durchaus auch Leute, die sich damit auskennen, und die behaupten, sofort hören zu können, wenn sie mit einem was-weiß-ich für einem Akkord in was-weiß-ich für eine Stimmung versetzt werden sollen. Thomas Mann hat den allwissenden Musikkennern und Kritikern mit der Figur des Wendell Kretzschmar im Doktor Faustus ein herrlich persiflierendes Denkmal gesetzt. 

Nein, ich glaube nicht, dass die Deutschen empfänglicher für den Zauber der Musik sind als andere so genannte Völker. In den oben erwähnten Statistiken über die Pro-Kopf-Ausgaben für Musik ist Deutschland ja auch nicht an erster Stelle, sondern an fünfter oder sechster, und der Abstand zum ersten beträgt in etwa ein Viertel. Musik ist ein universelles Ausdrucksmittel. Man höre sich doch mal im Internet verschiedene Nationalhymnen an. Die klingen alle irgendwie ähnlich, und die Musikwissenschaft versichert mir, das komme daher, dass sie fast alle in Dur gehalten sind. Gerne auch im 4/4- Takt – da lässt es sich gut dazu marschieren. Dieser und ähnliche Effekte funktionieren auf der ganzen Welt.

Ich glaube, die deutsche Sonderrolle in der Musik ist eine rein quantitative Größe, und das hatte ursprünglich ganz einfach damit zu tun, dass es in den Gebieten, die wir heute Deutschland nennen, in den für die Musikentwicklung entscheidenden Jahrhunderten einen wesentlich größeren Markt für Musik und professionelle Musiker gegeben hat als im übrigen Europa, und dass es somit ganz schlicht eine Angelegenheit von Angebot und Nachfrage war und ist.

Die unsichtbare Hand des Marktes

Als sich die europäische Musik zu ihrer Hochform entwickelte, zwischen 1600 und 1800, war Deutschland ein Land der Fürstenhöfe. Während sich die anderen großen europäischen Länder zentralisierten, war dieses Deutschland nach den Religionskriegen nur zu befrieden gewesen, indem man jedem Kleinregenten in seinem Territorium größtmögliche Souveränität zubilligte. Das hieß, dass kulturelles Leben sich nicht wie etwa in Frankreich an einem einzigen alles andere überstrahlenden Königshof abspielte, sondern dass es eine Unzahl von kleinen und kleinsten Hofhaltungen gab, von denen viele sich bei aller Kleinheit nichts weniger als das Versailles Ludwigs XIV zum Vorbild nahmen. Als sich diese Ära dem Ende zuneigte, verhöhnte Georg Büchner in seiner Komödie ‟Leonce und Lena” die vielen Kleinstfürstentümer als Reich Pipi und Reich Popo.

Und während Frankreich zwischen 1600 und 1800 gerade mal drei Komponisten hervorgebracht hat, deren Namen noch heute allgemein bekannt sind, Jean-Baptiste Lully (der eigentlich Italiener war) François Couperin und Jean-Philippe Rameau, gibt es ungleich mehr Komponisten aus den deutschsprachigen Territorien.

An den Höfen langweilte man sich, also heuerte man sich Musikanten an; übrigens gab es nicht nur in Deutschland so viele davon. Auch Italien war in eine Vielzahl von kleinen Territorien und Herrschaften zersplittert, und auch italienische Musiker haben die europäische Musik entscheidend mitgeprägt. In der Zeit, in der die deutschen Komponisten wirklich vorherrschend wurden, im Barock, war aber in Deutschland noch eine weitere treibende Kraft hinzugekommen: der Protestantismus lutherischer Prägung, der der Musik nicht nur im Gottesdienst, sondern auch im Familienleben eine hohe Bedeutung zumisst.

Es fehlte also nie an Menschen, die musizieren konnten, und es fehlte nie an Auftraggebern, die die Musiker nicht zuletzt für ihre Selbstinszenierung brauchten. Reich wurde man nicht als Musiker, aber man hatte sein Auskommen, und Wagners erste Frau Minna hat noch im mittleren 19. Jahrhundert nicht verstehen können, warum es ihrem Richard nicht genügte, Kapellmeister an einem deutschen Provinzhof zu sein.

Wie der Adel, so die Bürger

Aus dieser Marktsituation entwickelte sich die Musik im bürgerlichen Zeitalter weiter. Die Höfe verloren allmählich an Bedeutung, aber wieder war es das Fehlen einer zentralen Hauptstadt und ihrer Kultur konsumierenden Mittel- und Oberschicht, die in Deutschland (wie in Italien) die Entwicklung eines vielfältigen Musiklebens bis in die tiefste Provinz hinein ermöglichte. Wie der fürstliche Lebensstil des 18. Jahrhunderts, so war auch das aufsteigende Bürgertum des 19. über das ganze Land verteilt und nicht nur auf eine Hauptstadt konzentriert. In der Zeit, in der man gerne viel in die deutsche Musik hineingeheimnisste, wurde auch deutsches bürgerliches Familienleben gerne romantisch überhöht – was eignete sich da besser als eine Darstellung des großen Bach im Kreise seiner Lieben wie auf diesem Gemälde der Familie Bach von Edward Rosenthal aus dem Jahr 1870:

Quelle: picture-alliance / akg-images/akg-images

Schon 1781 wird das Leipziger Gewandhaus zur Heimstätte eines Orchesters, das bis heute diesen Namen trägt. In vielen deutschen Städten sind im Lauf des 19. Jahrhunderts vergleichbare Orchestergründungen, In-Besitznahmen bestehender Gebäude für Konzertzwecke und später auch Neubauten von Konzertsälen zu beobachten. In der Oper fand die gleiche Entwicklung statt – aber es dauerte etwas länger. Die reiche Hansestadt Hamburg leistete sich bereits in der Barockzeit ihr eigenes Opernhaus, aber im übrigen Deutschland mussten erst die Komponisten des 19. Jahrhunderts neue Impulse für eine ‟deutsche” Opernkunst setzen, bevor das Bürgertum sich in seiner ganzen Breite dafür begeistern konnte. Und diese ganze Breite hieß in Deutschland, auch das Bürgertum war und blieb über das gesamte Staatsgebiet verteilt, und nicht in einer einzigen Hauptstadt konzentriert.

Als Herkunftsort seines Tonsetzers Adrian Leverkühn denkt sich Thomas Mann die mitten in Deutschland gelegene Kleinstadt Kaisersaschern aus, die alles in sich vereinigt, was sich so über die deutsche Kulturprovinz sagen lässt. (vgl. Borchmeyers Kapitel ‟Das Deutsche im Spannungsfeld von Provinz, Nation und Welt”).

Im 19. Jahrhundert hörten Komponisten und Musiker auf, Lakaien der Fürsten zu sein, sondern mussten sich auf dem sich bildenden Markt bewähren. Das haben viele von ihnen so gewollt. In dem Film ‟Amadeus” wird dargestellt, wie schon Mozart darunter gelitten hat, am Salzburger Bischofshof nur komponieren und aufführen zu dürfen, was vorgeschrieben war. Joseph Haydn lebte auf, als er in London von Leuten gefeiert wurde, die seine Musik schätzten, und nicht wie sein Brotherr einfach erwarteten, mehr oder weniger täglich ein neues Stück vorgedudelt zu bekommen.  Auch der Virtuose wird in dieser Zeit zur öffentlichen Person. Der kleine Mozart (1756-1791) hat noch fast ausschließlich an Höfen und in anderen Privathäusern vorgespielt, und er wurde durch Empfehlungen weitergereicht, aber der Vater des kleinen Beethoven (1770-1827) und eine Generation später der Vater der kleinen Clara Wieck, spätere Schumann (1819-1896), machten schon regelrecht Werbung für öffentliche Konzerte mit dem Kind. Das junge Alter des Kindes wurde betont, der alkoholkranke Beethoven Senior hat sogar nach unten geschummelt. Der erste richtige Popstar der Musikszene war Liszt (1811-1886).

Marktrealität und was der machtlose Bürger daraus für Theorien bastelt

So wie man gegen Ende des 18. Jahrhunderts begann, sich wissenschaftlich mit den Künsten zu beschäftigen – die Grimms und ihr Kreis mit Sprache und Literatur, Winckelmann und andere mit der bildenden Kunst – so beschäftigte man sich auch mit Musiktheorie und -ästhetik, und aus der einfachen quantitativen Reichhaltigkeit des musikalischen Angebots in Deutschland wurden die abenteuerlichsten Schlüsse über die Beschaffenheit und qualitative Überlegenheit der deutschen Musik gezogen. Hinzu kam, dass das Bürgertum seinen noch in der Revolution von 1848 manifestierten Machtanspruch an die alten Obrigkeiten halb abgetreten, halb verloren hatte. Da konnte man trefflich spintisieren über den über allen Wassern schwebenden deutschen Geist, der dereinst die Welt retten werde – sowas findet sich fast wörtlich bei Wagner. Selbstredend empfand er die von ihm selbst und von anderen Deutschen geschaffene Musik als die reinste Äußerung dieses Geistes.

Man kann das alles heute nicht mehr lesen! Borchmeyer referiert ausführlich die Auseinandersetzung des Emigranten Thomas Mann mit Hans Pfitzner, der nicht nur daheim geblieben war, sondern sich auch vom Nazi-Regime als ‟deutscher Künstler” hatte instrumentalisieren lassen. Das wirkt auch im Abstand von mehr als einem halben Jahrhundert nur noch toxisch, und man ist froh, dass diese Zeiten vorbei sind. Dieser Text war nicht als Rezension von Borchmeyers Buch gedacht, ich empfehle es aber als einen Gewinn für alle, die sich mit dem Begriff der Nation und der Frage, was denn nun eigentlich deutsch ist (und was denn bitteschön eine deutsche Leitkultur sein soll), sachlich auseinandersetzen möchten.

https://www.rowohlt.de/hardcover/dieter-borchmeyer-was-ist-deutsch.html

Freitag, 16. Dezember 2016

Aus gegebenem Anlass: Was gäbe es für schöne Worte, wären da nicht die bescheuerten Anglizismen

Einer der am stärksten globalisierten Bereiche unseres kulturellen Lebens ist die klassische Musik.  Die Interpreten kommen aus aller Herren Länder, und der Vertrieb von aufgezeichneter Musik läuft immer noch zu einem großen Teil über Tonträger, meist CDs.  Damit nun diese Tonträger möglichst weltweit vertrieben werden können, wird das Begleitmaterial dazu nur noch in englischer Sprache produziert.  Und so kommt es dann, dass man in den deutschsprachigen Kultursendern und Feuilletons nichts mehr von Geigern hört, sondern nur noch von Violinisten. Die Faulheit liegt hier bei den Moderatoren/Schreibern, die die englischen Texte vor sich haben und nur das Notwendigste eindeutschen.  

Im Bereich Gesang hat uns diese Faulheit eine neue Singstimme beschert – den Counter-Tenor.  Diese Singstimme wird hauptsächlich in England gepflegt, und da lag das wohl nahe.  Wirklich?  Wir befinden uns im Lande von Bach und Beethoven, da müsste doch wohl noch zu verlangen sein, dass unsere Kultur vermittelnde Klasse es schafft, aus einem Counter-Tenor einen Contratenor zu machen.  Das englische Wort ärgert mich auch deshalb so, weil da dann in einem Wort so eine Misch-Aussprache stattfindet; kaum jemand sagt Counter Tenor (tenner), sondern eben Counter-Tenohr mit langem oh.  

Bei diesen Beispielen stehe ich wohl auf verlorenem Posten.  Bei einem andern hoffe ich, dass noch nicht Alles verloren ist – beim Rezital.  Geht‘s eigentlich noch?  Diese Eindeutschung ist so überflüssig wie ein Kropf.  Es gibt ja immer noch Viele, die gar nicht wissen was das ist, daher meine Hoffnung.  Für die sei jedenfalls gesagt, dass es sich dabei um ein Solokonzert handelt.  Im Deutschen kann man auch Klavier- Geigen-, Lieder- oder sonstiger Abend sagen – alles, bloß nicht Rezital!



Dienstag, 8. November 2016

Attitüde oder Attitude? Oder: Elka Sloan propagiert einen Anglizismus

Zu diesem Post gibt es noch einen Nachtrag unter http://elkasloan.blogspot.com/2018/02/nachtrag-attitude-is-word.html



Unter diesem Link findet man einen Artikel, der mit "Attitüde" überschrieben ist, und darin wird erklärt, wie man die richtige Attitüde entwickeln kann, mit der man dann im Beruf weiterkommt.

Ich will hier gar nicht auf den Inhalt eingehen, denn der ist nicht besser und nicht schlechter als andere vergleichbare Ratgeber-Texte. Worum es mir geht, ist das Wort Attitüde.

Was ist das für ein Wort? Das Ü zeigt an, dass es vor längerer Zeit aus dem Französischen in unsere Sprache eingewandert ist. Im Französischen heißt es Körperhaltung, vor allem im Ballett und bei der Beschreibung von künstlerischen Darstellungen des menschlichen Körpers.

Es wird aber auch metaphorisch mit der Bedeutung Geisteshaltung, Einstellung gebraucht. In beiden Bedeutungen ist es in der Zeit zwischen dem Dreißigjährigen Krieg und der Französischen Revolution ins Deutsche gekommen. Der deutsche Adel orientierte sich in dieser Zeit an der französischen Hofhaltung – jeder Duodezfürst ein kleiner Sonnenkönig – das ist für das weitere Verständnis wichtig. Man sprach im Adel Französisch; das bekannteste Beispiel ist Friedrich II von Preußen, von dem überliefert ist, dass er die französische Sprache wesentlich besser beherrschte als die deutsche.

Der Gebrauch der französischen Sprache durch die deutsche Oberschicht wurde zunächst von Gelehrten, später auch von Sozialkritikern kritisiert und persifliert, und da machte das Wort Attitüde einen Bedeutungswandel durch und beschrieb eine “bewusst eingenommene, gekünstelte, körperliche Haltung, affektiv wirkende Geste”. So stand es jedenfalls noch in Meyers Deutschem Wörterbuch von 1979. Man sieht sie vor sich, die aufgedonnerten Höflinge mit ihren Damen unter (flohverseuchten) Perücken, wie sie mit Spitzentüchlein wedelnd ihre Menuette tanzen.

Heute wandern die Wörter aus Nordamerika bei uns ein, und da begegnet uns das Word attitude wieder – diesmal eigentlich ganz anders ausgesprochen, aber mit dem Ü wars ja schon da. Jedenfalls hatte die englische Version dieses früher natürlich mal lateinischen Wortes nicht den gleichen soziologischen Werdegang wie die französisch-stämmige Attitüde durchgemacht, bevor es zu uns kam.

Das Wort war in den USA bis in die Siebzigerjahre neutral, bis es der rebellischere Teil der US-amerikanischen Schwarzenbewegung für sich entdeckte. Googeln Sie "Nigger (oder Nigga) with attitude", abgekürzt auch NWA, und Sie sind im Bilde. Es beschreibt eine "I'm-not-takin'-any-shit-from-you"-Haltung, die man als SchreiberIn eines Karriereratgebers vielleicht nicht unbedingt insinuieren möchte.

Aber das Wort existiert in seiner neutralen Bedeutung weiter; man denke an die Luxusuhren-Werbung, in der verschiedene Prominente unter dem Satz "Elegance is an attitude" zu sehen waren. Unser Karriere-Ratgeber zitiert einen australischen Musikprofessor, der bei analytischer Betrachtung der Karrieren seiner Schüler festgestellt habe, es sei die "Attitüde" gewesen, die die Spreu der Erfolglosen vom Weizen der Erfolgreichen getrennt habe.

Es geht dann nach guter Ratgeber-Art weiter mit einer Liste von "Attitüden", die angeblich die wahren Innovatoren ausmachten. Zum Schluss steht die Aufforderung "Attitüde, Baby!"

Dieser Ausruf kommt nun wieder zweifelsohne aus dem Rapper-Milieu, und das Ü darin wirkt irgendwie deplatziert – oder geht das nur mir so?

Wir haben ja schon den Banquier zum Banker gemacht, und das Appartement zum Apartment - warum sollten wir dann nicht die Attitüde zur Attitude machen - also: Mut zum Angliszimus, vor allem dann, wenn das vermeintlich deutsche Wort ein Gallizismus ist, der einmal auf dem blankpolierten Parkett der Fürstenhöfe zu uns geschlittert gekommen ist.

Zu diesem Post gibt es noch einen Nachtrag unter http://elkasloan.blogspot.com/2018/02/nachtrag-attitude-is-word.html

Mittwoch, 24. August 2016

Ich kanns nicht lassen



Ich muss mal wieder zu meinem Lieblingsthema zurückkommen - bescheuerte Anglizismen.

Kürzlich habe ich einen Roman gelesen, der in diesem Jahr erschienen ist. Der Autor ist 32 Jahre alt, ein Millennial also. Erzählt wird eine Familiengeschichte aus der Sicht eines Ich-Erzählers, der zu dieser Familie gehört. Die Geschichte erstreckt sich über die Zeit zwischen seiner Kindheit (etwa 8 oder 9 Jahre) und seiner Lebensmitte (ca. 40). Die Schauplätze sind verschiedene deutsche Städte, ein bisschen Frankreich und ein bisschen Schweiz.

Ich sage hier nicht, um welches Buch es sich handelt, denn es geht mir überhaupt nicht um das Buch als Ganzes oder um die Frage, ob es als Roman "gut" oder "schlecht" ist. Mir geht es um ein paar stilistische Entgleisungen, die ich als #bescheuerteAnglizismen subsummiere, und deren Häufigkeit in diesem Buch mich etwas erstaunt hat.

Ich habe keinen Hinweis, dass Deutsch nicht die Muttersprache des Autors ist, trotzdem finden sich in diesem Buch Sätze, die mich an schlechte Übersetzungen aus dem Englischen denken lassen:


1.      … [es] war keine dieser elitären Einrichtungen
     mit Tennisplätzen, Hockeyfeldern und Töpfereien ...
2.      Erst wenn ich ein Erwachsener bin ...
3.      Ein schmuddeliger Kleinkrimineller aus Philly, der
     jederzeit einen Supermarkt überfallen und mit fünf
     Dollar und einer Tüte Milch flüchten konnte.
4.      Mein sehnlichster Wunsch war es, keine
     verdammte Waise mehr zu sein
5.      Ich weiß ja nicht, wie es dir ging, aber wir hatten
     eine grauenhafte Zeit damals …
6.      Er wohnte nur wenige Blocks entfernt von unserem
     früheren Zuhause
7.      ... irgendetwas, was mich besänftigte, aber nicht
     das hier.
8.      Ich werde das hier überleben.
9.      Das bin nicht ich, …. das hier bin ich einfach nicht!


Soweit meine Liste. Ich habe nicht gezielt nach solchen Sätzen Ausschau gehalten, und ich habe bestimmt noch ein paar ähnliche Sätze übersehen, aber diese Auswahl zeigt hoffentlich, worum es mir geht.

Jeder versteht diese Sätze, aber sie klingen alle irgendwie falsch, entweder weil sie ein Demonstrativpronomen setzen, wo im Deutschen keins hingehört (1) oder den demonstrativen Charkter des bestimmten Artikels mit dem Wort "hier" verstärken, wie es im Deutschen nicht üblich ist (7-9) - keine Ahnung, in welchem Lexikon das zuerst gestanden hat.

Im Satz (2) wird ein Substantiv mit unbestimmtem Artikel benutzt, wo im Deutschen ein Adjektiv ausreicht. 

Das im Satz (3) benutzte Bild hat der Autor natürlich aus dem Kino - aber es ist vollkommen ohne jeden Bezug in dem beschriebenen mitteleuropäischen Milieu, und wer weiß schon um welche Stadt es sich bei "Philly" handelt. Es wird auch an keiner anderen Stelle im Buch ein ähnliches Bild gebraucht.

Satz (4) ist nicht so einfach in korrektes Deutsch zu bringen, aber man könnte es schon versuchen. So gehts jedenfalls nicht.

Auch der Ausdruck "eine [gute oder schlechte] Zeit haben" (5) ist in unserer  Sprache nicht gebräuchlich.

Die Städte werden bei uns nicht in "Blocks" eingeteilt (6), und Zuhause wird eher selten substantivisch gebraucht, um zu sagen, man habe irgendwo mal gewohnt.


Wir haben hier eine Mischung aus sprachlichen Anglizismen und falsch gewählten Bildern, und das in einem Text, von dem man annehmen kann, dass er sorgfältig geschrieben wurde und auch gegengelesen worden ist, bevor er veröffentlicht wurde.

Warum sind diese Sätze niemandem aufgefallen?